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Titel
Wem gehören diese Wunden?. Die Deutung Anna Katharina Emmericks im Spannungsfeld von Bistumsleitung Münster, preußischer Provinzialregierung, Medizin und Romantik (1813–1852)


Autor(en)
Albert, Astrid
Erschienen
Münster 2022: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
X, 376 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisa Heuser, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen

Anna Katharina Emmerick ist eine der ersten Stigmatisierten des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1813 und 1820 erregte die Aussage, die fünf Wundmale Jesu Christi erschienen regelmäßig auf dem Körper der 38-Jährigen, große Aufmerksamkeit in Dülmen und darüber hinaus. Aus Sicht der Zeitgenoss:innen machten diese Wunden die ehemalige Augustinerin wahlweise zu einer Heiligen, Kranken oder Betrügerin.

In ihrer 2020 an der Bergischen Universität Wuppertal angenommenen Dissertation fokussiert sich Astrid Albert auf die männlichen Wortführer im Fall Emmerick. Dies waren vor allem Generalvikar Clemens August Droste zu Vischering als Vertreter der alten Herrschaft des Fürstbistums Münster, Oberpräsident Ludwig von Vincke als Vertreter der neuen preußischen Staatsmacht und Clemens Brentano als Vertreter der literarischen Romantikbewegung. Die Arbeit will dreierlei Fragen beantworten: Welche Konfliktlinien werden bei der Beurteilung und Deutung der Wunden Emmericks sichtbar? Welche historischen Bedingungen führten dazu, dass der Fall Emmerick eine solche Aufmerksamkeit bekam und breit diskutiert wurde? Zuletzt, welche greifbaren, praktischen Interessen standen hinter den Handlungen der Akteure?

Die vorliegende Monografie ist die erste geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen des Dülmener Falls. Sie ergänzt bisherige Arbeiten aus medizinhistorischer1 oder literaturwissenschaftlicher2 Perspektive. Dafür untersucht sie den Briefwechsel zwischen den kirchlichen, medizinischen und staatlichen Akteuren, Untersuchungsprotokolle, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie die teilweise unvollendeten, erst nach Brentanos Tod veröffentlichten religiösen Werke und seine fragmentarische Emmerick-Biografie.

Wie andere Erscheinungen „auffällige[r] Religiosität“ (S. 25) – so Albert im Anschluss an Jolanda Schärli – deutet auch hier das Interesse und das Ausmaß der Diskussionen um Emmerick auf eine Krisensituation hin, in der sich die Zeitgenoss:innen in Westfalen Anfang des 19. Jahrhunderts befanden.3 Albert stellt daher die These auf, dass Dülmen ein „Experimentierfeld“ (S. 42) war, auf dem das Verhältnis von sich reformierendem Staat und katholischer Kirche neu austariert wurde.

Im ersten Kapitel soll die reale historische Person der Anna Katharina Emmerick freigelegt werden, jenseits der interessegeleiteten Projektionen ihrer Zeitgenoss:innen. Dazu gleicht Albert die Fremdbeschreibungen mit der sozialen Wirklichkeit Westfalens Anfang des 19. Jahrhunderts und tradierten Topoi von Heiligenviten ab.

Im zweiten Kapitel untersucht Albert das Spannungsfeld zwischen Bistumsleitung, Provinzialregierung und Medizin. Hier stehen die beiden Hauptakteure, Generalvikar Droste zu Vischering und Oberpräsident Ludwig von Vincke, im Vordergrund. Alberts These lautet, dass es sich hierbei um „zwei gegensätzliche Typen“ (S. 143) gehandelt habe. Der adelige Droste zu Vischering gehörte der alten Führungsebene des ehemaligen Fürstbistums an, die ihren Einflussbereich nach der Säkularisierung zu verteidigen suchte. Von Vincke hingegen, der zwar ebenso wie Vischering aus einer adeligen Familie stammte, verkörperte den „neuen Typus des (bürgerlichen) Berufsbeamten: [...] für den Staatsdienst ausgebildet, rationalistisch [...] und unablässig arbeitend.“ (S. 147). Ihre Diskussion über die Ursachen und das Wesen der Wunden Emmericks zeugen Albert zufolge von divergierenden Ordnungsvorstellungen, Weltentwürfen und Kompetenzansprüchen. Die Institutionen rangen miteinander um die Autorität, Normen zu setzen und deviantes Verhalten als solches zu markieren. Albert zeigt, dass der Grundkonflikt in der Diskrepanz zwischen Rollenverständnis und -zuschreibung der Akteure lag. Kleriker wie Mediziner verhielten sich nicht wie von der jeweiligen Gegenseite intendiert und ließen sich nicht für die gegnerische Agenda instrumentalisieren.

In der ersten durch die Kirche initiierten Beobachtung 1813 lag es Droste zu Vischering daran, Lebensgeschichte und christliche Tugenden überprüfen zu lassen, um einen Kanonisierungsprozess vorzubereiten. Er sah die beteiligten Mediziner (wie Franz Ferdinand Druffel oder Dr. Ringenberg) in der Rolle von Beobachtern, die mit einem Gutachten eine natürliche Ursache oder einen Betrug ausschließen sollten. Die beteiligten Mediziner fanden sich in einem Dilemma wieder: Auf der einen Seite schlossen sie eine übernatürliche Ursache für die Wunden aus und übten Kritik an der unwissenschaftlichen Durchführung der Beobachtung. Auf der anderen Seite wollten sie sich öffentlich nicht explizit gegen eine Wunderursache der Wunden aussprechen. Albert argumentiert, dass das taktische Verhalten der Mediziner weniger aus der Antizipation von Problemen mit staatlichen Akteuren resultierte als vielmehr in der Angst vor der öffentlichen Meinung und Ablehnung durch das konservativ-katholischem Milieu, in dem die Mediziner lebten und arbeiteten. Über das Untersuchungsverfahren und die Erklärung des Phänomens konnten sich die beteiligten Mediziner nicht einigen. Daher endete die erste Untersuchung ohne ein offizielles Gutachten.

Als kirchenstaatsrechtlichen Streitfrage wurde die Untersuchung Emmericks 1819 noch einmal auf Initiative der preußischen Regierung aufgenommen. In den Jahren zuvor reagierte diese – vertreten durch Oberpräsident Ludwig von Vincke – zunächst zögerlich, aus Angst, die katholische Bevölkerung erhebe Emmerick zur Protestfigur gegen die neue protestantische Regierung. Wieder änderten die Beteiligten im Laufe des Verfahrens ihre Verhaltensstrategien und standen abermals ohne klares Ergebnis da. Die Beobachtung endete ohne weitere Maßnahmen durch den preußischen Staat wie eine Gefängnisstrafe oder einen erzwungenen Kuraufenthalt.

Somit scheiterte auch der zweite Versuch, den Fall abschließend zu klären und ein Narrativ in der breiten Öffentlichkeit durchzusetzen. Albert argumentiert, dass Emmerick ein Präzedenzfall für die preußische Verwaltung dargestellt habe. Im Gegensatz zum kanonischen Prozess der Seligsprechung konnten die preußischen Beamten auf keine erprobten Deutungs- und Verhaltensweisen zurückgreifen. Erst in späteren Fällen von Stigmatisationen reagierten die Behörden schneller und stuften die betroffenen Frauen als Kranke ein.

Im dritten Kapitel untersucht die Autorin Brentanos Aufzeichnungen aus den sechs Jahren, die er am Bett Emmericks verbrachte. Aus ihren Visionen konstruierte er in hochstilisierter Form seine antirationalistische katholische Programmatik. Für Brentano fungierte Emmerick als „Sehnsuchtsort“ (S. 323) und als Zeichen für eine Resakralisierung der Welt, die ihn zu fundamentaler Kritik an der Aufklärung veranlassten.

„Am Ende gehörten die Wunden keine der Konfliktparteien“ (S. 336), resümiert Albert, da sich keine Partei mit ihrer Deutung durchsetzen konnte. Dabei sei es in den Konflikten um Staats- und Kirchenräume, um Rationalität und Expertise von Medizin und Theologie und im katholischen Programm Brentanos weniger darum gegangen, Andere zu überzeugen, sondern vielmehr Autorität erst herzustellen oder zu festigen, um überhaupt Deutungen hervorbringen zu können. Die Verhaltensweisen der Akteure seien dabei nicht von Anfang an festgelegt gewesen, sondern mussten im Verlauf des Dülmener Falls erst ausgehandelt werden. Albert argumentiert, dass Droste zu Vischering und Vincke die Umbruchzeiten für ihre Agenden nutzen konnten und am Ende beide als „Gewinner“ (S. 321) dastanden. Gleichermaßen konnte Brentano Emmerick und ihre Wunden gewinnbringend für seine katholische Programmatik nutzen, auch wenn seine stilisierten Aufzeichnungen ironischerweise lange einer Seligsprechung im Wege standen.

Gerne würde man noch mehr zur Rolle der Öffentlichkeit im Fall Emmerick erfahren. Albert betont zwar ihre Rolle als Adressatin und „Richterin“ (S. 333), gleichzeitig war die Öffentlichkeit auch Treiberin der Ereignisse. So initiierte die preußische Regierung die zweite Beobachtung als Reaktion auf die Besprechung des Falls auf der Leipziger Buchmesse. Das Ergebnis der Untersuchung sollte den Ruhm der Stigmatisierten beenden. Gegen die geplante Translokation Emmericks zu Untersuchungszwecken in ein anderes Haus protestierten zahlreiche Dülmer:innen. Die daraufhin forcierte Umsiedlung, bei der Emmerick ohnmächtig aus dem Haus getragen wurde, festigte die Wahrnehmung der Dülmener:innen einer übergriffigen preußischen Staatsmacht, der nicht zu trauen sei. Hier wäre eine Ausdifferenzierung der Stimmen der Öffentlichkeit interessant, beispielsweise durch mehr Informationen zu den in der zweiten, profanen Kommission beteiligten Bürgern sowie Reiseberichte von anderen Besuchern wie Friedrich Leopold von Stolberg und Franz Limberg.

Nichtsdestotrotz liegt eine gründliche und gut lesbare Einzelstudie vor, mit der es Albert gelungen ist zu zeigen, dass der Fall Emmericks nicht bloß ein „Nebenschauplatz“4 war. Die Verfasserin stellt vielmehr die Bedeutung des Falls als Vorläufer weiterer Konflikte zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus, etwa den Kölner Wirren (die 1837 in der Verhaftung Droste zu Vischerings gipfelten) und des Kulturkampfes in den 1870er-Jahren.

Anmerkungen:
1 Clara Wurm, Medizinische Konzepte zur religiösen Stigmatisation im 19. Jahrhundert, Köln 2012.
2 Wolfgang Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos (1815–1842). Romantik im Zeitalter der Metternich’schen Restauration, Tübingen 1977.
3 Jolanda Schärli, Auffällige Religiosität. Gebetsheilungen, Besessenheitsfälle und schwärmerische Sekten in katholischen und reformierten Gegenden der Schweiz, Hamburg 2012. Vgl. Elke Pahud de Mortanges, Irre – Gauklerin – Heilige? Inszenierung und Instrumentalisierung frommer Frauen im Katholizismus des 19. Jahrhunderts, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 100 (2006), S. 203–225.
4 Frühwald, Spätwerk, S. 174.

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